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2003 mit dem Projekt nestor (Network of Expertise in long-term Storage and
availability of digital Ressources in Germany) erstmals ein nationales Kompe-
tenznetzwerk gebildet, um den immer spürbarer werdenden Defiziten bei der
Langzeitarchivierung gemeinsam zu begegnen. Die Partner in dem bis 2009
genehmigten Projekt sind die Deutsche Nationalbibliothek, die Staats- und
Universitätsbibliothek Göttingen, die Bayerische Staatsbibliothek München,
die Humboldt-Universität Berlin, das Bundesarchiv, die Fernuniversität Hagen
und das Institut für Museumsforschung der Stiftung Preußischer Kulturbesitz
in Berlin. Die wesentlichen Aufgaben sind: Identifikation von Arbeitsgruppen,
Institutionen, Projekten, Experten im deutschsprachigen Raum, die inhaltlich
zur Ausfüllung des Kompetenznetzwerkes beitragen können, Aufbau der inten-
siv genutzten Plattform des Kompetenznetzwerks
http://www.langzeitarchivie-
rung.de
zu allen Fragestellungen der Langzeitarchivierung digitaler Ressourcen,
Bewusstseinsbildung bei Bibliotheken, Archiven und Museen für die Fragestel-
lungen der Langzeitarchivierung und für die Parallelität der Themenstellungen
in den drei Communities, sowie die Durchführung von Workshops und Se-
minaren zu unterschiedlichen Aspekten der Langzeitarchivierung. Die Anbin-
dung der Aktivitäten an die Förderlinien der Europäischen Kommission und
die Zusammenarbeit mit außereuropäischen Institutionen sind wesentlicher
Bestandteil der Arbeit. Darüber hinaus hat nestor in einem „Memorandum zur
Langzeitverfügbarkeit digitaler Informationen in Deutschland“ die notwen-
digen Anstrengungen von politischen Entscheidungsträgern, Urhebern, Verle-
gern, Hard- und Softwareherstellern sowie kulturellen und wissenschaftlichen
Gedächtnisorganisationen zusammengestellt, für die die Rahmenbedingungen
in einer nationalen Langzeitarchivierungs-Policy gesichert werden müssen.
Eine wesentliche Vorbedingung für die Etablierung einer Archivierungsstruk-
tur für elektronische Ressourcen in Deutschland ist die Stärkung der öffent-
lichen Bewusstseinsbildung für die Relevanz der Langzeitarchivierung elektro-
nischer Ressourcen. Derzeit kommen die entscheidenden Entwicklungen auf
diesem Gebiet vor allem aus dem angloamerikanischen Raum (USA, England,
Australien). Um in Zukunft die Anschlussfähigkeit der Archivierungsaktivitäten
an diese Entwicklungen zu gewährleisten und diese vor dem Hintergrund der
spezifischen bibliothekarischen Bedürfnisse und Gegebenheiten der deutschen
Informationslandschaft mitzugestalten, wird eine intensivere Kooperation und
eine noch stärkere Partizipation der Bibliotheken an diesen Initiativen notwen-
dig sein.
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[ Version 1.5 ] 3-11
3.2 Archive
Christian Keitel
Die digitale Revolution fordert die klassischen Archive in zwei Bereichen her-
aus: Zum einen bedürfen die übernommenen Objekte ständiger Aufmerksam-
keit und Pflege; es genügt nicht mehr, sie in einem Regal abzulegen und über
Findbücher nachweisbar zu halten. Zum anderen müssen die Archive bereits vor
dem Zeitpunkt der Bewertung aktiv werden, um ihren Aufgaben auch künftig
nachkommen zu können. Während in den angelsächschen Ländern die Archive
seit jeher auch für die Schriftgutverwaltung der abgebenden Stellen (Behörden,
Unternehmen...) zuständig sind, ist die Aufgabe des Recordsmanagements für
die deutschen Archive neu.
Der Lebenslauf (Lifecycle) eines digitalen Objekts kann aus Sicht des Archivs
in mehrere Phasen eingeteilt werden.
1.) Systemeinführung:
Bei der Einführung eines neuen IT-Systems in der abgebenden Stelle sollte das
Archiv beteiligt werden, um wenigstens die Anbietung und den Export der im
System zu produzierenden Unterlagen zu gewährleisten. Neben der Definition
von Schnittstellen ist dabei über geeignete Formate und die Ausgestaltung von
Löschroutinen zu sprechen. Bei einem weitergehenden Anspruch kann das Ar-
chiv auch versuchen, in der Behörde auf eine authentische und integre Schrift-
gutverwaltung hinzuwirken. Als Standards im Bereich der Schriftgutverwaltung
können genannt werden: DOMEA (Deutschland), GEVER (Schweiz), ELAK
(Österreich), NOARK (Norwegen), MoReq (EU, angelsächisch geprägt) und
die ISO 15489. In Australien soll sich jedes in der Behörde entstehendes Do-
kument über eine spezielle Nummer eindeutig dieser Behörde zuweisen lassen
(AGLS). Ebenfalls sehr weit ausgearbeitet ist das VERS-Konzept aus der aus-
tralischen Provinz Victoria.
2.) Bewertung:
Seit jeher können Archive nur einen Bruchteil der in den abgebenden Stellen
verwahrten Unterlagen übernehmen. Die Auswahl der archivwürdigen digitalen
Unterlagen weicht teilweise von der archivischen Bewertung papierner Unter-
lagen ab. Gemein ist beiden Prozessen der Versuch, vielfältig interpretierbare
3 State of the Art
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aussagekräftige Unterlagen zu ermitteln. Dienstreiseanträge werden auch nicht
dadurch archivwürdig, wenn sie in digitaler Form vorliegen. Andererseits er-
möglichen digitale Unterlagen neue Formen der Informationssuche und -ag-
gregierung. Es kann daher sinnvoll sein, in manchen Bereichen ganze Daten-
banken zu übernehmen, aus denen bisher mangels Auswertbarkeit nur wenige
oder keine Papierakten ins Archiv übernommen wurden. Die Diskussion über
geeignete Bewertungsmodelle und -verfahren wird noch einige Jahre in An-
spruch nehmen.
3.) Übernahme und Aufbereitung:
Abhängig von den bei der Systemeinführung erfolgten Absprachen bekom-
men die Archive im günstigsten Fall sämtliche Daten in archivfähiger Form
angeboten, im schlechtesten müssen sie sich selbst um den Export und die
spätere Umwandlung in taugliche Formate sowie deren Beschreibung bemüh-
en. Die meisten Archive setzen auf das Migrationskonzept, benötigen also eine
entsprechend aufwändige Aufbereitung der Daten. In zunehmendem Maß ste-
hen dabei kleine Tools zur Verfügung, die v.a. von angelsächischen Archiven als
Open Source Software veröffentlicht werden, z.B. DROID (National Archives,
Kew) und XENA (National Archives of Australia).
4.) Archivierung:
Ende des letzten Jahrhunderts wurde im angelsächischen Raum das Konzept
der „postcustocial option“ diskutiert. Danach sollten die datenerzeugenden
Stellen diese bei festgestellter Archivwürdigkeit unbefristet aufbewahren. Den
Archiven würde dann die Aufgabe der Bewertung und die Kontrolle über die
Speicherung und Zugänglichkeit der Daten zufallen. Dieses Konzept wird seit
einigen Jahren nicht mehr diskutiert, mit dem australischem Nationalarchiv hat
sich 2000 auch ein ehemaliger Fürsprecher wieder der klassischen Übernah-
me und Archivierung zugewandt. Die deutschen Archive diskutieren neben der
Eigenarchivierung auch die Möglichkeit, die Daten physisch in einem Rechen-
zentrum abzulegen (z.B. Landesarchiv Niedersachsen). Das Bundesarchiv hat
bei der Wiedervereinigung zahlreiche Altdaten der DDR übernommen. Neben
der Speicherung müssen die digitalen Unterlagen auch in ein zu entwickelndes
Verhältnis mit den herkömmlichen papiernen Archivalien gesetzt werden, zu-
mal auf absehbare Zeit viele Unterlagen weder rein digitaler noch ausschließlich
analoger sondern hybrider Natur sein werden.
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[ Version 1.5 ] 3-13
5.) Benutzung:
Archive bergen im Regelfall Unikate, die nicht ersetzt und daher nur im Lese-
saal benutzt werden können. Nachdem digitale Archivalien weder den Begriff
des Originals noch eine Bindung auf einen Träger kennen, können diese Ar-
chivalien auch in einem geschützten Intranet oder im Internet benutzt werden.
Benutzungsmöglichkeiten über das Internet bieten derzeit die National Ar-
chives, Kew, (NDAD:
http://www.ndad.nationalarchives.gov.uk/
) und die NARA,
Washington an (AAD:
http://aad.archives.gov/aad/
).
Zusammenfassend sind die deutschen Archive im Bereich der Systemein-
führung sehr gut aufgestellt. In den Bereichen der Übernahme, Archivierung
und Benutzung sind die angelsächsischen Archive und hier insbesondere die
Nationalarchive der USA, des UK und von Australien sehr aktiv. Einen inter-
essanten Ansatz verfolgen die staatlichen Archive der Schweiz: Sie haben 2005
auf der Grundlage einer Strategiestudie eine Koordinierungs- und Beratungs-
stelle (KOST) eingerichtet, die kooperative Antworten auf die digitalen Heraus-
forderungen finden soll,
http://www.vsa-aas.org/index.php?id=110&L=0
.
3 State of the Art
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3.3 Museen
Winfried Bergmeyer
Im Jahre 2006 gab es über 6.100 Museen und Sammlungen in Deutschland.
Die Spannbreite der musealen Sammlungspolitik umfasst Werke der bildenden
Kunst, historische Objekte, technische Denkmäler bis hin zu Spezialsamm-
lungen von Unternehmen und Privatsammlern. Diese Vielfältigkeit spiegelt sich
auch in den Arbeitsaufgaben der einzelnen Museen wieder. Sammeln, Bewah-
ren, Forschen und Vermitteln als Kernbereiche der Institutionen benötigen und
produzieren unterschiedlichste Informationen und dies zunehmend in digitaler
Form. Nur mit digitalen Daten kann der Forderung nach schneller Verfügbar-
keit und freiem Zugang zu unserem Kulturerbe in Zukunft Rechnung getragen
werden. Kooperationen in Form von Projekten oder Internet-Portalen bilden
dabei ein wichtiges Element der institutionsübergreifenden Erschließung von
Beständen.
1. Digitale Kunst
Spätestens seit der Entwicklung der Video-Kunst ist eine Abhängigkeit der
Kunstwerke von elektronischen Medien gegeben. Diese Nutzung elektronischer
und digitaler Medien in der Kunst stellt die sammelnden Institutionen vor neue
Herausforderungen. Hierbei geht es nicht allein um die Konservierung von
Bitströmen, sondern auch von komplexen Installationen mit entsprechender
Hardware. Die künstlerische Wirkung dieser Installationen wird häufig durch
die spezifische Hardware zur Wiedergabe bestimmt. Die Langzeitarchivierung
digitaler Kunst ist eine Herausforderung, die auf Grund ihrer Komplexität
zahlreiche unterschiedliche Lösungskonzepte hervorgebracht hat. Der Ansatz,
den Künstler/die Künstlerin in den Prozess der Konservierung einzubinden,
ist dabei ein richtungsweisender Ansatz. In Absprache mit ihm/ihr sollte ge-
klärt werden, wie das Verhältnis zwischen physischer Präsentationsumgebung
(Hardware, Software) und inhaltlichem Konzept zu gewichten ist. Auf dieser
Basis kann danach entschieden werden, welche Archivierungskonzepte gewählt
werden können. Die statische Konservierung beinhaltet die Aufbewahrung
(und Pflege) von Hard- und Software, also des kompletten Systems und ist die
aufwändigste, technisch komplexeste und eine sicherlich nicht für alle Instituti-
onen realisierbare Methode. Die Migration der Daten vom alten Dateiformat in
ein neues, aktuelles Dateiformat oder die Emulation von Hard- und Software-
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[ Version 1.5 ] 3-15
Umgebungen sind alternative Konzepte zur Langzeitarchivierung. Unabhängig
von der gewählten Methode ist die Forderung nach Archivierung von Infor-
mationen, die zu diesem Kunstwerk, seiner Entstehung und Rezeptionen in
Beziehung stehen, für eine erfolgreiche Konservierung unerlässlich.
2. Multimediale Anwendungen
Museen sind Orte des offenen Zugangs zur kulturellen, technologischen und
wissenschaftlichen Geschichte und Gegenwart. Sie vermitteln der interessierten
Öffentlichkeit wissenschaftliche Informationen. In diesem Handlungsbereich
erfreut sich moderne Informationstechnologie in Form von Terminalanwen-
dungen, Internet-Auftritten und elektronischen Publikationen zunehmend grö-
ßerer Beliebtheit. Die Nutzung der neuen Medien für interaktive Anwendungen
ermöglicht neue Formen der Präsentation. In diesem Rahmen werden zuneh-
mend Technologien verwendet, die sich unterschiedlicher und zum Teil kom-
binierter Medientypen (Audio, Video, Animationen etc.) bedienen. Hinsichtlich
der Erhaltung und des langfristigen Zugriffs gibt es momentan noch wenige
Konzepte und Erfahrungen. Als Bestandteil temporärer Ausstellungen werden
sie häufig nach deren Ende beiseite gelegt, ohne die Möglichkeiten einer wei-
teren oder späteren Nutzung zu bedenken. Als Teil der Vermittlungsgeschichte
oder in Form einer Nachnutzung in anderen Bereichen sollte auch, unter Be-
achtung von festgelegten Auswahlkriterien, hier ein Konzept zur Langzeitar-
chivierung bestehen. Die Komplexität und Vielfältigkeit dieser Anwendungen
erfordert dabei individuelle Konzepte. Vergleichbar der Vorgehensweise bei di-
gitaler Kunst ist besonderer Wert auf umfangreiche Dokumentation zu legen,
in der die Programmierungs-Dokumentationen, Hardware-Anforderungen, In-
stallationsvorgaben und Bedienungsanleitungen gesichert werden.
3. Sammlungsmanagement
Zu den originären Aufgaben eines Museums gehört das Sammlungsmanage-
ment, das neben der wissenschaftlichen Inventarisation auch zahlreiche admi-
nistrative Bereiche umfasst. Die digitale Inventarisation hat seit den 1990er Jah-
ren Einzug in große und mittlere Institutionen gehalten und wird mittlerweile
vermehrt von den Museumsträgern eingefordert. Sie ist integraler Bestandteil
der täglichen Museumsarbeit geworden und eine wesentliche Voraussetzung
für die Nutzung und Pflege der Sammlungen. Zur langfristigen Erhaltung des
Wissens über die musealen Objekte ist die Erhaltung der Metadaten und ihrer
Struktur notwendig. Um hier eine Langzeitverfügbarkeit zu gewährleisten sind
3 State of the Art
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Standards im Bereich der Ontologien, Thesauri und Vokabularien unabdingbar.
Als bekanntestes Metadaten-Schema findet das der Dublin Core Metadata Initi-
ative (
http://dublincore.org
) häufig Anwendung. Mit dem Datenaustauschformat
Museumdat, basierend auf dem von J. Paul Getty Trust zusammen mit ARTstor
entwickelten CDWA Lite sowie dem CIDOC-CRM gibt es neue Ansätze zur
Vereinheitlichung des Austauschformates komplexerer Metadaten. Die zahl-
reichen unterschiedlichen Vokabularien und Thesauri zur Erschließung bedür-
fen ebenso einer Zusammenfassung, um sammlungsübergreifendes Retrieval
zu erlauben. Eine Vielzahl an Software-Herstellern bieten kleine bis große Lö-
sungen für das Datenmanagement an. Die wichtigsten Anbieter sind mittlerwei-
le in der Lage Schnittstellen für Metadaten nach Dublin Core anzubieten.Web-
Services für Vokabularien (z.B. http://www.museumsvokabular.de) erlauben in
naher Zukunft vielleicht auch hier eine Vereinheitlichung.
4. Restaurierung und Konservierung
Die Restaurierung ist in vielen Museen eine eigene Abteilung, deren Aufga-
be der langfristige Erhalt der musealen Objekte ist. Die neuen Medien bieten
den Restauratoren und Wissenschaftlern zahlreiche neue Möglichkeiten ihre
Arbeit zu verbessern. Neben den digitalen Restaurierungsberichten bildet die
Technik der virtuellen Rekonstruktion eine Methode, museale Objekte ohne
Beeinträchtigung des realen Objektes zu ergänzen. Durch Nutzung virtueller
Abbilder und Repräsentationen (z. B. 3D-Objekte) kann die mechanische und
klimatische Belastung von empfindlichen Museumsobjekten reduziert und
somit deren Erhaltung für zukünftige Untersuchungen gesichert werden. Di-
gitale Repräsentationen sind auch als „Sicherungskopien“ für den Notfall zu
verwenden. Objekte aus fragilen Materialien unterliegen oft einem nur hinaus-
zuzögerndem Verfallsprozess, so dass hochauflösende digitale Scans hier eine
konservatorische Alternative bieten. Digitalisate können natürlich nicht reale
Objekte ersetzen, erlauben aber für den Fall des Verlusts eine visuelle Siche-
rungskopie zu erstellen, die selbstverständich nur bei entsprechender Langzeit-
archivierung ihre Aufgabe erfüllen kann.
Die Komplexität und Vielschichtigkeit der in den Museen anfallenden digitalen
Daten erfordern von den Institutionen ein speziell für die Sammlung definiertes
Konzept für die Langzeitarchivierung. Notwendig sind individuelle Konzepte
auf Basis bestehender Standards und Empfehlungen, die den personellen, fi-
nanziellen und technischen Ressourcen wie auch der jeweiligen Sammlungsstra-
tegie gerecht werden. Dabei ist die Dokumentation der Archivierungskonzepte
und ihrer Umsetzung unabdingbar.
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