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Entwicklergenerationen technischer Lösungen überhaupt nicht voraussehen
können und bei denen das, was Archivierung eigentlich ausmacht - Sicherung
von Authentizität und Integrität durch dauerhafte Stabilisierung und Zugäng-
lichmachung von authentischen unikalen Kontexten - auch im digitalen Umfeld
gewährleistet ist. Die Offenheit des OAIS ist also auf Zukunftsfähigkeit und
auf Nachhaltigkeit ausgerichtet. Die heute im Rahmen des OAIS realisierten
Lösungen sollen auch in der Zukunft verwendbar und in neue technische Rea-
lisierungen übertragbar sein. Das OAIS wird damit auch offen für neue Anfor-
derungen an die Nutzung.
Das OAIS konzentriert sich auf die Langzeitaufbewahrung und Langzeit-
nutzbarhaltung hauptsächlich digitaler Aufzeichnungen und dies unter Berück-
sichtigung der sich verändernden Technologien. Wenn die Autoren des OAIS
sich hauptsächlich auf digitale Aufzeichnungen konzentrieren, so verweisen
sie doch darauf, dass in einem weiteren Sinne jedes digitale Archiv, das dem
OAIS-Standard folgt, immer auch mit schon bestehenden, sich auf analoge
Unterlagen konzentrierenden Archivlösungen verknüpfbar sein und dass die-
se Verknüpfung auch in der Zukunft erhalten bleiben muss. Das OAIS zeigt
also Wege auf zur dauerhaften Sicherung digitaler Unterlagen in ihrem Kontext
und den wechselseitigen Beziehungen zu analogem Schriftgut, die sich wandeln
können: Die Gedächtnisorganisationen werden in Zukunft eben auch Papier
enthalten müssen, es treten neue Aufzeichnungsformen hinzu, die die alten kei-
neswegs vollständig verdrängen werden. Ebenso wie sich das noch vor wenigen
Jahren propagierte „papierlose Büro“ als Hirngespinst erwiesen hat und, viel
bescheidener, heute nur noch vom „papierarmen Büro“ gesprochen wird, sind
Überlegungen zu einem vollständigen Medienbruch bei der Archivierung rea-
litätsfremd. Das OAIS berücksichtigt Bestehendes: Es ist gerade deshalb ein
Modellansatz und ein Standard, der damit auch Einfluss auf zukünftige Ar-
beitsmethoden im Archiv nehmen wird. Es geht nämlich von den klassischen
archivischen Arbeitsfeldern, Erfassen, Aussondern, Bewerten, Übernehmen,
Erschließen, Erhalten und Zugänglichmachen aus, aber definiert sie in ihren
Teilaufgaben und Arbeitsabläufen unter dem Blickwinkel der Bedürfnisse digi-
taler Archivierung neu. Im gewissen Sinne beantwortet der Text des OAIS die
schon so häufig gestellte, aber bisher bestenfalls unbefriedigend beantwortete
Frage nach dem zukünftigen Aufgabenspektrum von Gedächtnisorganisati-
onen im digitalen Zeitalter. Auch die Frage danach, welche Funktionen auto-
matisierbar sind, wird thematisiert. Hier liegt nicht zuletzt auch ein für Fragen
der Aus- und Fortbildung interessanter Aspekt.
Das OAIS erhebt den Anspruch, auf jedes Archiv anwendbar zu sein, Archiv
7 Das Referenzmodell OAIS
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nestor Handbuch: Eine kleine Enzyklopädie der digitalen Langzeitarchivierung
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vom Begriff her bezieht sich hier ausdrücklich auf den Bereich der dauerhaften
Aufbewahrung und langfristigen Zugangssicherung. Dabei wird auch kein
Unterschied gemacht, ob die Archivierung organisationsintern bei den produ-
zierenden Stellen selbst erfolgt, oder bei Organisationen, die digitale Objekte
zur Archivierung übernehmen.
2. Die Kernkomponenten: Informationsobjekte und Datenmodell
Das OAIS unterscheidet zwischen drei so genannten Informationsobjekten
die miteinander in Verbindung stehen und sich aufeinander beziehen, aber ent-
wickelt worden sind, um den unterschiedlichen Umgang und die unterschied-
lichen Tätigkeiten bei der digitalen Archivierung besser beschreiben zu können.
Das was Archive an digitalen Unterlagen übernehmen, heißt in der Terminolo-
gie des OAIS Submission Information Packages (SIP). Im Archiv selbst werden
diese SIP vom Archiv durch Metainformationen ergänzt und umgeformt zu
Archival Information Packages (AIP), die weiter verarbeitet werden und die im
Kern die Form darstellen, in der die digitalen Informationen tatsächlich lang-
fristig aufbewahrt werden. Zugänglich gemacht werden die AIPs über die so ge-
nannten Dissemination Information Packages (DIP), die für bestimmte Nutz-
ergruppe je nach Vorliegen bestimmter rechtlicher Bedürfnisse generiert und
zielgruppenorientiert zur Verfügung gestellt werden können. Dieser Ansatz ist
im Vergleich zum klassischen Bestandserhaltung durchaus ungewöhnlich. Im
Sinne des OAIS wird nämlich nicht ohne Veränderung das einfach aufbewahrt,
was man übernimmt, sondern es wird zukünftig die Aufgabe der Verantwort-
lichen sein, sehr viel mehr noch als im Bereich der Archivierung von analogen
Unterlagen dafür zu sorgen, dass die Unterlagen überhaupt archivfähig sind.
Die Umformung der SIPs zu Archival Information Packages kann z.B. darin
bestehen, dass aus den mit übernommenen Objekten und den mitgelieferten
Metadaten die zur Langzeiterhaltung notwendigen Metadaten generiert werden.
Darüber hinaus sind die Formate, in denen ein SIP dem Archiv angeboten und
von ihm übernommen wird, keinesfalls unbedingt identisch mit den tatsäch-
lichen Aufbewahrungsformaten, in denen die Archival Information Packages
dann tatsächlich vorliegen. Sichergestellt sein muss die Bewahrung von Authen-
tizität und Integrität auch mit Blick auf die rechtswahrende und rechtssichernde
Funktion digitaler Archive. Ein AIP aus dem Jahre 2003 wird naturgemäß in
einem ganz anderen Format und in einer ganz anderen Datenstruktur vorlie-
gen, als das gleiche AIP etwa im Jahre 2010. Grundgedanke dieser Arbeit mit
Informationspaketen ist es, dass Inhalte, Metadaten und - wo unverzichtbar
- die entsprechenden Strukturen der digitalen Aufzeichnungen nachvollziehbar
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bzw. rekonstruierbar gehalten werden, unabhängig von den sich wandelnden
technischen Gegebenheiten. Dies ist ein Aspekt, der eben auch auf die Be-
nutzung der Unterlagen zielt. Die Dissemination Information Packages dienen
der Nutzung und dem Zugang je nach den Bedürfnissen der jeweiligen Be-
nutzergruppen und sind ganz gezielt für unterschiedliche Benutzer anzupassen
und auch anpassbar zu erhalten. Gerade das ist für die klassische dauerhafte
Bestandserhaltung in Archiven eine ungewöhnliche Vorstellung: dem Benutzer
wird nicht mehr das vorgelegt, was im Magazin verwahrt wird, sondern aus dem
was verwahrt wird werden Informationspakete generiert, die auf die Bedürf-
nisse der Kunden natürlich auch in Abhängigkeit von die Nutzung einschrän-
kenden Rechten Betroffener oder Dritter zugeschnitten werden. Diese Um-
formung der AIPs in DIPs bezieht sich dabei keinesfalls ausschließlich auf die
Veränderung der Datenformate, sondern eben auch auf die Bereitstellung von
digitalen Informationen in Verbindung mit einer für den Benutzer besonders
komfortablen Funktionalität. Hier wird im OAIS ein Ansatz aufgegriffen, der
im Bereich der archivischen online-Findmittel verwendet wird. Die einzelnen
Informationspakete werden im Rahmen des OAIS als digitale Objekte verstan-
den. Sie bestehen immer aus Daten und beschreibenden und ggf. ergänzenden,
repräsentativen Zusatzinformationen.
Jedes Informationspaket enthält erstens inhaltliche Informationen (Content
Information), die aus den übernommenen, ggf. aufbereiteten Ursprungsdaten
und der beschreibenden Repräsentationsinformation bestehen, und zweitens
so genannte „Informationen zur Beschreibung der Aufbewahrungsform“ (Pre-
servation Description Information (PDI)), die erklären, was an Technik und
welche Verfahren auf die Inhaltsinformation angewandt wurden, also wie sie
verändert wurden und welche Technik und welche Verfahren benötigt werden,
um sie zu sichern, sie eindeutig zu identifizieren, sie in ihren Kontext einzu-
ordnen und für die Zukunft nutzbar zu machen. Die Preservation Description
enthält Informationen, die die dauerhafte Aufbewahrung beschreibt, sie besteht
wiederum aus vier Elementen.
Erstes Element ist die Provenienz, hier werden also die Quelle der Inhaltsin-
formation seit deren Ursprung und ihre weitere Entwicklung, also ihr Entste-
hungs- und Entwicklungsprozess, beschrieben.
Zweites Element ist der Kontext, wo die Verbindung einer konkreten Inhalt-
sinformation mit anderen Informationen außerhalb des jeweiligen Informati-
onspakets nachvollziehbar gehalten wird.
7 Das Referenzmodell OAIS
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nestor Handbuch: Eine kleine Enzyklopädie der digitalen Langzeitarchivierung
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Drittes Element sind Beziehungen (References), wo über ein System von ein-
deutigen Bezeichnern (unique identifiers) die Inhaltsinformationen mit den auf
sie bezogenen Metadaten und anderen Inhaltsinformationen eindeutig identifi-
zierbar und eindeutig unterscheidbar gemacht werden.
Viertes Element sind Informationen zur Stabilisierung (fixity), damit die In-
haltsinformationen vor nicht erfasster Veränderung bewahrt werden können.
3. Das Funktionsmodell des OAIS
Es sind sechs Aufgabenbereiche
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, die im Rahmen des skizzierten Standards
beschrieben werden:
1. Datenübernahme (Ingest)
2. Datenaufbewahrung (Archival Storage)
3. Datenmanagement
4. Systemverwaltung
5. Planung der Langzeitarchivierung (Preservation Planning)
6. Zugriff (Access)
Im Bereich Ingest geht es um die Übernahme des digitalen Archivguts. Zu-
nächst wird die Vorbereitung der Einlagerung im Archiv vorzunehmen sein,
dazu gehört etwa auch die Bereitstellung der notwendigen technischen Kapa-
zitäten und die Kontaktaufnahme mit dem Produzenten. Ein weiterer Aspekt,
der ganz entscheidend ist, ist die Qualitätssicherung der Submission Informati-
on Packages, d.h. ihre Prüfung auf Lesbarkeit, Verständlichkeit und korrekten
Kontext und dann die Herstellung der archivischen Informationspakete (AIP),
die mit den Formaten und Standards des jeweils aufbewahrenden Archivs über-
einstimmen. Der Analyse, Sicherung und ggf. Verbesserung der Datenqualität
kommt im digitalen archivischen Vorfeld eine Schlüsselrolle zu, hier wird aber
auch erstmalig verändernd eingegriffen. Das OAIS geht davon aus, dass digitale
Archive aus ganz unterschiedlichen Systemumgebungen SIPs in einer Vielzahl
von unterschiedlichen Formaten einfach übernehmen müssen und diese erst
bei der digitalen Archivierung, also bei der Einlagerung ins digitale Magazin,
4 Vgl. Grafik 7.1
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[ Version 1.5 ] 7-9
zu nach einheitlichen Standards aufgebauten und zu generierenden AIPs um-
formen. Zum Bereich Übernahme gehört auch die Erstellung der notwendigen
Erschließungsinformationen für die Erschließungsdatenbank des digitalen Ar-
chivs und erste planende Maßnahmen, die das regelmäßige Update des Daten-
speichers und das dazu notwendige Datenmanagement organisieren.
Der zweite Teil „Achival Storage“ umfasst den digitalen Speicher, seine Orga-
nisation und seinen Aufbau im engeren Sinne. Hier werden die AIPs vom Über-
nahmebereich in Empfang genommen und eingelagert und es wird dafür ge-
sorgt, dass regelmäßig gewartet und die Wiederauffindbarkeit der archivischen
Informationspakete überprüft wird. Dazu gehört der Aufbau einer technischen
Lagerungshierarchie und die regelmäßige systematische Erneuerung der im je-
weiligen Archiv standardisiert verwendeten Datenträger, sowie das so genannte
Refreshing, d.h. die Überprüfung der verwendeten Datenträger auf ihre Lesbar-
keit und die Verständlichkeit der gespeicherten AIP. In diesem Zusammenhang
ist darauf zu verweisen, das OAIS ausdrücklich die Vorteile einer redundanten
Archivierung auf zwei verschiedenen Informationsträgern hervorhebt.
Im Bereich Datenmanagement geht es um die Wartung und das Zugänglichhal-
ten der Verzeichnungsinformationen und ihre kontinuierliche Ergänzung und
Aufbereitung, dann aber auch das Verwalten verschiedener Archivdatenbanken
und auch in diesem Bereich die Ausführung von verschiedenen Datenbank-Up-
dates zur Sicherung von Lesbarkeit, Verständlichkeit und Nutzbarkeit.
Punkt vier umfasst das Management des OAIS. Management bezieht sich auf
die Beziehungen zwischen Archivaren und Nutzern auf der einen Seite und dem
Software/Hardware-System auf der anderen. Beschrieben werden alle Rege-
lungen zur Zuständigkeit für die Arbeitsvorgänge im Archivssystem, wozu auch
gehört, dass das, was automatisierbar ist, von den Vorgängen getrennt wird, die
von Menschen erledigt werden müssen. Ebenso der Bereich Qualitätssicherung
ist hier eingeordnet. Auch das Aushandeln von Verträgen zur Übergabe und zur
Nutzung und die Prüfung der Informationspakete sowie das Unterhalten von
jeweils verwendeten Hard- und Softwarelösungen gehört natürlich zum Bereich
des Managements im Open Archival Information System.
Der fünfte Teilbereich, der Bereich der Planung der Langzeitarchivierung im
digitalen Archiv (Preservation Planning) befasst sich nicht nur mit der Sicher-
stellung des reibungslosen Informationszugangs in der Gegenwart, sondern ist
vielmehr auf die Zukunft gerichtet. Es geht nämlich darum, Empfehlungen
abzugeben, in welchen Zeitzyklen Updates vorgenommen werden müssen und
in welchen Zyklen eine Migration der in einem Standardformat aufbewahrten
elektronischen Aufzeichnungen in ein anderes neues Format vorgenommen
7 Das Referenzmodell OAIS
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werden müssen. Das heißt, eine ständige Überwachung im Bereich der Ver-
änderung der Technologie gehört hier unabdingbar dazu. Aber auch der Blick
auf den Benutzer und Veränderungen von Nutzungsgewohnheiten spielt hier-
bei eine Rolle. Preservation Planning umfasst dem zufolge die Erstellung von
Vorlagen (Templates) für die Information Packages und die Entwicklung einer
Migrationsstrategie im Archiv.
Der sechste und abschließende Bereich Zugriff (Access) befasst sich mit der
Unterstützung der Benutzer beim Auffinden der entsprechenden elektronischen
Informationen. Hier werden Anfragen entgegengenommen, Zugangsberechti-
gungen koordiniert und dann den jeweiligen Benutzergruppen die für sie nutz-
baren Dissemination Information Packages, also Nutzungsinformationspakete,
generiert und verteilt. Neben diesen fachlich ausgerichteten Aufgabenbereichen
gehört natürlich auch ein Bereich der Verwaltung von OAIS als Gesamtsystem
zum Betrieb und Unterhalt dazu, gewissermaßen die „Zentralabteilung“ des
digitalen Archivs. Besondere Bedeutung hat dabei die Verwaltung der OAIS-
Software, die nötig ist, um das Archiv überhaupt betreiben zu können. Dazu
gehören der Aufbau eines funktionstüchtigen, aber auch geschützten Netz-
werks, und die regelmäßige Überprüfung und Verbesserung der Sicherheit des
OAIS, um die in ihm enthaltenen Informationen vor unberechtigtem Zugang
zu schützen.
Das OAIS setzt vollständig auf eine Migrationsstrategie als die derzeit von den
Funktionen und der Technik her am besten beherrschbaren Strategie, selbst
wenn es anderen Archivierungstechniken (z.B. Emulation) gegenüber offen ist.
Migration wird im Sinne des OAIS in vier Bereiche systematisch zergliedert:
erstens den Bereich des „Refreshment“, des Wiederauffrischens mit dem Ziel,
die Lesbarkeit der Datenträger zu sichern. Refreshment ist vor allen Dingen im
Rahmen der AIPs, aber auch im Bereich der SIPs notwendig, damit überhaupt
eine Übernahme möglich ist. Zum Refreshment tritt zweitens die „Replica-
tion“, bei der regelmäßig der Kontext der verschiedenen Informationssysteme
überprüft wird: Bestehende Verknüpfungen oder im Rahmen der Generierung
von AIPs im Archiv hergestellte Verknüpfungen werden auf ihre Funktions-
tüchtigkeit und darauf überprüft, ob sie logisch schlüssig und verständlich sind.
Ggf. ist drittens ein „Repackaging“, also eine Art von digitaler Umbettung nö-
tig, damit die bestehenden Verknüpfungen wieder funktionstüchtig sind oder
ggf. neue Verknüpfungen erstellt werden (etwa dann, wenn vom Produzenten
neue SIPs übernommen und zu AIPs umgeformt werden). Zum Schluss gehört
auch die Transformation, d. h. die Übertragung auf neue, für einen bestimmten
Zeitraum als tauglich erkannte Speichermedien, dazu. Hier wird im Rahmen
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